„Auch in Lautertal gibt es Rassismus“

HESSISCHES PLÄDOYER DIE FLÜCHTLINGS-INITIATIVE NETZWERK VIELFALT WILL MIT EINEM OFFENEN BRIEF AN DIE GEMEINDEVERTRETUNG ERREICHEN, DASS DIE RESOLUTION DOCH NOCH VERABSCHIEDET WIRD

Lautertal.Die Lautertaler Flüchtlings-Initiative Netzwerk Vielfalt greift die Debatte um das Hessische Plädoyer für ein solidarisches Zusammenleben noch einmal auf. Die Lautertaler Gemeindevertretung hatte sich bei ihrer Sitzung im Februar nicht darauf einigen können, das unter Mitwirkung des Hessischen Städte- und Gemeindebundes entstandene Papier als Resolution zu verabschieden. Mit den Stimmen von Lautertaler Bürgerliste und CDU wurde vielmehr ein deutlich verkürzter Aufruf beschlossen.

Das Netzwerk hat nun einen offenen Brief an die Gemeindevertretung geschrieben. In dem Schreiben an den Vorsitzenden Günter Haas (LBL) und die Fraktionen heißt es, die Initiative sei irritiert über die ablehnende Haltung der Gemeindevertretung.

„Irritierend empfinden wir insbesondere drei im Bergsträßer Anzeiger zitierte Aussagen von Günter Haas, zu denen wir als zivilgesellschaftlicher Verein selbst Stellung beziehen wollen.“

„Hoher Anstieg der Straftaten“

Dabei gehe es zunächst um die Feststellung, Rassismus sei ein politischer Kampfbegriff. „Diese Aussage impliziert, Rassismus sei kein reales Phänomen. Die hessische Kriminalstatistik und Veröffentlichungen der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt beweisen das Gegenteil“, schreibt das Netzwerk.

Der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke sowie der Terroranschlag in Hanau seien in der Öffentlichkeit noch sehr präsent. Am 18. Februar habe das hessische Innenministerium einen Anstieg rechtsextremer Straftaten in Hessen im vergangenen Jahr um 52 Prozent gemeldet. Bei antisemitischen Straftaten liege die Steigerungsquote 2019 sogar bei 56 Prozent.

„Welche Wirkung wird die Aussage, Rassismus sei ein politischer Kampfbegriff, bei den Opfern rassistischer Gewalt haben?“, so das Netzwerk, das auch die Feststellung, in Lautertal gebe es keinen Rassismus infrage stellt. „Glücklicherweise mussten wir in den vergangenen Jahren in Lautertal keine rassistisch motivierten Gewalttaten erleben. Rassismus gibt es jedoch in Lautertal ebenso wie in allen anderen Regionen und Gemeinden in Hessen und darüber hinaus.

Die ehrenamtlichen Helfer erleben selbst regelmäßig rassistische Vorurteile bei der Unterstützung geflüchteter Menschen. Bei der Jobsuche oder Wohnungssuche sind sie spürbar. Auch im normalen Alltagsleben beim Einkauf und in der Schule. Uns sind eine Vielzahl von Beispielen bekannt, in denen Menschen in Lautertal von Rassismus betroffen sind.“

Dass die heutige Generation für die Untaten ihrer Vorväter keine Verantwortung trage, sei zunächst eine juristische Feststellung. Sich einem Plädoyer über das solidarische Zusammenleben in der Gesellschaft anzuschließen, sei allerdings keine juristische Frage, sondern eine politische Haltung.

„Eine politische Verantwortung besteht selbstverständlich für unsere Generation und für alle folgenden. Verantwortungsübernahme bedeutet, im Wissen um die historisch singulären Verbrechen die Zukunft zu gestalten.“ Dies stehe ganz im Sinne der Aussage des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäckers in seiner Rede zum 40. Jahrestags des Kriegsendes am 8. Mai 1985: „Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.“

In der Bundesrepublik habe es „immer ein demokratisches Einvernehmen“ darüber gegeben, dass menschenverachtende Ideologien keinen gesellschaftlichen Raum erhalten dürften. Der Raison „Wehret den Anfängen“ habe sich das gesamte demokratische Spektrum zugeordnet, erinnert das Netzwerk in seinem offenen Brief.

„Wir sind über die Anfänge hinaus“

„NPD, Wehrsportgruppe Hoffmann, NSU, Beteiligung von staatlichen Stellen, erinnerungspolitische Wende um 180 Grad, Mahnmal der Schande, ein ermordeter Politiker, rassistische Terroranschläge: leider müssen wir heute konstatieren: Wir sind weit über die Anfänge hinaus.“ Im Netzwerk Vielfalt setzten sich Bürger aus Lautertal seit fünf Jahren ehrenamtlich für Integration, Vielfalt und Toleranz im gemeindlichen Zusammenleben ein. Das Netzwerk unterstütze daher ausdrücklich dass Hessische Plädoyer für ein solidarisches Zusammenleben.

„Wir begrüßen es, dass sich die Gemeindevertretung in einem eigenen Text von Hass und Gewalt in der Gesellschaft distanziert. Gleichermaßen haben wir kein Verständnis für die Ablehnung des Plädoyers, das deutlich breiter gefasst ist. Lautertal hat sich durch die ablehnende Haltung aus der Gemeinschaft der hessischen Städte und Gemeinden und eines breiten zivilgesellschaftlichen Bündnisses aus Menschrechtsorganisationen, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften, Universitäten und vielen anderen verabschiedet.“

Dies zeuge nicht von solidarischem, gemeinschaftlichem Handeln. Der Vorstand des Netzwerks Vielfalt appelliere daher an die Gemeindevertretung und insbesondere an die Koalitionsfraktionen aus LBL und CDU, die nächste Sitzung der Gemeindevertretung dazu zu nutzen, sich dem Plädoyer doch noch anzuschließen“, heißt es in dem Schreiben an die Lautertaler Gemeindevertreter abschließend. 

tm/red© Bergsträßer Anzeiger, Donnerstag, 19.03.2020

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